F. Pedrina: Gemeinbesitz in den Tessiner Alpen

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Titel
Gemeinbesitz in den Tessiner Alpen,.


Autor(en)
Pedrina, Fernanda
Erschienen
Frankfurt a. M. 2023: Brandes & Apsel Verlag
Anzahl Seiten
242 S.
von
Markus Schär

Eine Zürcher Kinderpsychiaterin entscheidet mit, was auf den Alpweiden am Gotthard geschieht, von der Anlage eines Waffenplatzes bis zum Bau einer Atommülldeponie. Das ist nicht nur eine Kuriosität, sondern auch eine Reminiszenz an eine der wichtigsten Traditionen der Eidgenossenschaft: die kommunale Selbstverwaltung, die sich in der Neuzeit fast nur in der heutigen Schweiz hielt und da sogar in den Untertanengebieten galt.

Fernanda Pedrina führt eine psychiatrische Praxis in Zürich und forscht als Privatdozentin zum Seelenleben in der frühen Kindheit. Aber sie stammt aus Airolo, und da das Dorf am Gotthard auch die vielen Abgewanderten am Gemeingut teilhaben lässt, bleibt sie Patrizia mit allen Rechten. Ihre Masterarbeit im Nachdiplomstudium MAS Applied History der Universität Zürich nahm sie deshalb zum Anlass, um am Beispiel ihres Heimatortes über die Tradition der Selbstverwaltung nachzudenken. Mit der erweiterten Buchfassung wirft sie – im Sinne des MAS – die Frage auf, «was aus der Geschichte bezüglich der Verwaltung des Gemeinbesitzes in Hinblick auf neue kollektive Projekte zu lernen ist».

Wie die Menschen mit ihren Gemeingütern umgehen, ob lokal oder global, bekam in den letzten Jahrzehnten vor allem wegen der Umweltprobleme wieder eine grosse Bedeutung. Für ihre Forschung, wie sich die «Tragik der Allmende», also die Übernutzung, verhindern lässt, erhielt die amerikanische Politologin Elinor Ostrom 2009 als erste Frau den Nobelpreis für Ökonomie. In der Schweiz lehrten seit dem Zweiten Weltkrieg bedeutende Historiker, was die eidgenössische Tradition des Staatsaufbaus von unten auch für die Zukunft zu bieten hat: Peter Blickle in Bern schuf das Konzept des Kommunalismus, in dem die Einwohner von Städten und Dörfern ihren Alltag selbst regeln; Adolf Gasser in Basel sah in seinem wichtigsten Werk die Gemeindefreiheit gar als «Rettung Europas». Diese Forschung führt vor allem Daniel Schläppi fort1 – seine spannenden Arbeiten nimmt Fernanda Pedrina leider nicht auf.

Die Autorin, die sich auch in Zürich für Genossenschaften engagiert, liess sich bei ihren Studien nicht von der eidgenössischen Tradition des Kommunalismus leiten, sondern von der marxistischen Kritik am Liberalismus. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts setzte sich in ganz Westeuropa das Privateigentum am Boden durch, weil die Allmenden nicht gepflegt und deshalb schlecht genutzt wurden. Die Einhegungen, um intensivere Landwirtschaft zu betreiben und extensive Nutzung durch Besitzlose zu verhindern, fingen mit der industriellen Revolution in England an – diese «ursprüngliche Akkumulation», also die «Expropriation des Landvolks von Grund und Boden», sah Karl Marx als Sündenfall der politischen Ökonomie.

In der Eidgenossenschaft stellte sich das Problem um 1800 aber andersherum; das führte zu den Konflikten, denen die Autorin nachforscht. Hier pflegten die Gemeinden die kommunale Selbstverwaltung, gerade beim Nutzen der Gemeingüter. Nur die Eingesessenen mit Grundbesitz regelten allerdings so ihr alltägliches Zusammenleben, und sie schotteten sich in den Krisen des 17. und des 18. Jahrhunderts immer stärker gegen Hintersassen ohne Land und gegen Zuzüger ab. Diese Ordnung brachen die Franzosen auf, als sie 1798 einfielen: Die Helvetische Republik sah für die ganze Schweiz eine einzige Gemeinde vor, an der alle (männlichen) Einwohner aufgrund eines persönlichen Rechts teilhaben sollten.

Die Mediationsakte von 1803, die den Einheitsstaat wieder auflöste, überliess das Problem des Gemeindedualismus den Kantonen: Neben den historisch gewachsenen Bürgergemeinden, die nur die Eingesessenen umfassten, gab es seit 1798 die eigentlich als Übergangslösung eingeführten Munizipalgemeinden, die ausser den Juden alle männlichen Einwohner einschlossen. Deshalb entwickelten sich die Verhältnisse in den Kantonen ganz unterschiedlich, teils mit Folgen bis in die Gegenwart. So etwa im Thurgau, der das traditionelle Bürgerprinzip in den Ortsgemeinden, das revolutionäre Einwohnerprinzip aber in den territorial grösseren Munizipalgemeinden verankerte und dieses lähmende Nebeneinander erst Ende des 20. Jahrhunderts überwand.

Das Tessin ist besonders interessant, wie Fernanda Pedrina darlegt, weil den noch bestehenden 212 Patriziati weiterhin eine grosse Bedeutung zukomme. Die Geschichte der lokalen Selbstverwaltung reicht in der Leventina, wie im ganzen Alpenraum, bis ins 12. Jahrhundert zurück; seit der «divisio alpium» von 1227 nutzten die zehn «vicinanze», die Dorfgemeinschaften des Tals, ihre eigenen Gemeingüter. Und auch die Eroberer aus Uri liessen ihre Untertanen weitgehend selbst darüber bestimmen. Als sie 1602 in der Leventina nach ihrem Vorbild eine einzige Talgenossenschaft schaffen wollten, reichte das Drohen mit Unruhen, dass sie das Vorhaben aufgaben.

Kurze Zeit, in der Restauration ab 1815, legte der junge Kanton die Munizipal- mit den Bürgergemeinden zusammen. Er trennte sie aber 1830 wieder, und trotz mehreren Gemeindegesetzen liessen sich die Probleme nicht lösen. Die radikale Form des Gemeindedualismus, der den Patriziati eine rechtsstaatliche Garantie für ihre Gemeingüter bot und die politischen Gemeinden finanziell schwach hielt, blockierte jede weitere Veränderung – für den Rechtshistoriker Pio Caroni «eine Tessiner Tragödie». Erst die Krise der Alpwirtschaft und die Abwanderung aus den Tälern im 20. Jahrhundert führten zur heute geltenden Regelung, dass die Patriziati zwar ihre Güter weiterhin selbst, aber eingebettet in die staatlichen Strukturen, verwalten. Bei der Waldnutzung legt der Bund die politischen Ziele fest und der Kanton wacht über die Umsetzung; die Alpwirtschaft hängt von den Direktzahlungen aus der Bundeskasse ab. «Das Patriziato hat in diesem Bereich sehr viel Autonomie verloren», stellt die Autorin fest.

Wie die Tradition aus dem Hochmittelalter unter den Bedingungen des Spätkapitalismus in ihrem Heimatort fortlebt, untersucht Fernanda Pedrina einerseits mittels Interviews mit Zeitzeugen, anderseits in den Versammlungsprotokollen der letzten Jahrzehnte. Sie kommt zu einem zurückhaltenden Fazit: Zwar seien sehr viele Funktionen der Patriziati «von übergeordneten, hierarchisch strukturierten Instanzen übernommen worden», die Selbstverwaltung und ihre Kultur seien aber noch wirksam «in einzelnen Bereichen, in denen lokale Kenntnisse und gelebte Gewohnheiten immer noch einen anerkannten Beitrag zur angemessenen Pflege und Nutzung der Güter beisteuern».

Das heisst, als Fazit des Rezensenten, der sich selbst in eine lebendige Bürgergemeinde eingekauft hat: Die Selbstverwaltung des Gemeinbesitzes wird zur Folklore. Sie wirkt zwar immer noch identitätsstiftend, in Airolo auch dank dem für Zuzüger kaum verständlichen Dialekt der Patrizi, wie gerade das Engagement der in Zürich lebenden Bürgerin zeigt. Aber es geht dabei nicht mehr um die Existenzsicherung, also nicht um Nutzungskonflikte, sondern um Luxusprobleme, etwa darum, wie sich mit dem Kampf gegen das Verbuschen der Alpweiden die Biodiversität fördern lässt.

So bietet Fernanda Pedrina eine aufschlussreiche Fallstudie zu einem grundlegenden Thema der Schweizer Geschichte, das mehr Beachtung verdient. Die Frage, die sie sich aufgrund ihres genossenschaftlichen Engagements stellte, bleibt allerdings offen. Die «Exzesse der neoliberalen Wirtschaftsform» hätten weltweit die Diskussion befeuert, welchen Beitrag kollektiv verwaltete Institutionen zu einer ökologisch nachhaltigen und sozial gerechten Entwicklung leisten könnten, stellt die Autorin im Klappentext fest. Die Antwort, die sie geben müsste, ist für die Freunde des eidgenössischen Kommunalismus aller Couleurs leider ernüchternd: Das Patriziato von Airolo lebt nur noch dank den Steuergeldern der kapitalistischen Schweizer Wirtschaft – vor allem dank den Direktzahlungen, also der Abgeltung von Leistungen für die (grösser gefasste) Gemeinschaft, die auf dem Markt keinen Ertrag abwerfen.

Anmerkung:
1 Siehe etwa Daniel Schläppi, Malte Gruber (Hg.), Von der Allmende zur Share Economy.Gemeinbesitz und kollektive Ressourcen in historischer und rechtlicher Perspektive, Berlin 2018.

Zitierweise:
Schär, Markus: Rezension zu: Pedrina, Fernanda: Gemeinbesitz in den Tessiner Alpen, Frankfurt a. M. 2023. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 73(3), 2023, S. 425-427. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00134>.